ACHSE fordert den Zugang zu Orphan Drugs sicherzustellen!
ACHSE, der Dachverband von mehr als 130 Selbsthilfeorganisationen von Menschen, die mit einer Seltenen Erkrankung leben und die Stimme von mehr als 4 Millionen Betroffenen in Deutschland, fordert auch in Zukunft den Zugang zu Arzneimitteln für seltene Leiden („Orphan Drugs") sicherzustellen.
Für eine bestmögliche Versorgung sowie für mehr Lebensqualität und Lebensdauer brauchen die Betroffenen den schnellen und umfassenden Zugang zu wirkungsvollen Orphan Drugs. Außerdem bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen für die Industrie, damit auch für die tausenden Erkrankungen, für die es noch gar kein Arzneimittel gibt, Orphan Drugs entwickelt und vertrieben werden können.
ACHSE unterstützt Maßnahmen, um überhöhte Preise zu verhindern (a). Da allerdings sowohl die Entwicklungs- und Herstellungskosten der Industrie als auch die Preisverhandlungen intransparent bzw. vertraulich sind, kann ACHSE sich nicht zur Redlichkeit der aktuellen Preise positionieren. Gerade weil die Preisverhandlungen geheim sind, trägt das Bundesministerium für Gesundheit eine große Verantwortung, dass die Änderungen der gesetzlichen Regelungen ohne negative Konsequenzen für die Verfügbarkeit der Orphan Drugs in Deutschland bleiben.
Gleich mehrere Maßnahmen des Referentenentwurfs betreffen Orphan Drugs.
Mit einer Senkung der Umsatzschwelle auf 20 Millionen Euro, vereinbarter Erstattungspreise ab dem 7. Monat, Berücksichtigung der Orphan Drugs bei der „Solidaritätsabgabe" und dem Ende der freien Preisverhandlung bei geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen wird das Entwickeln und Vertreiben von Orphan Drugs für die Industrie weniger attraktiv als bislang.
Dabei ist zu bedenken, dass der Preis, der auf dem deutschen Markt generiert werden kann, neben den in einigen wenigen anderen Märkten, wie dem der USA und Japan, für die Industrie von besonderer Bedeutung ist. Wenn dieser an Bedeutung verliert, sehen wir die Gefahr, dass die Orphan Drugs nicht mehr zuerst in Deutschland vertrieben werden und Betroffene in Deutschland ihren frühen Zugang möglicherweise verlieren. In diesem Zusammenhang stellen die skizzierten Leitplanken für die Preisverhandlungen eine deutliche Herausforderung dar. Dabei soll Gesundheitsversorgung nicht nur zweckmäßig und wirtschaftlich, sondern auch ausreichend sein.
Aus der Begründung des Referentenentwurfs geht nicht hervor, warum gesichert ist, dass diese Änderungen den Zugang für die Betroffenen in Deutschland nicht verhindern oder verzögern. Die Betroffenen brauchen die Gewissheit, die Arzneimittel weiterhin zu erhalten.
ACHSE ruft die beteiligten Akteure dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und den Zugang zu Orphan Drugs für deutsche Versicherte weiterhin sicherzustellen. Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung ist selbstverständlich ein wichtiges Ziel. Das BMG kommt zu verschiedenen Schätzungen über die möglichen Ersparnisse (b). Aus unserer Sicht steht das Einsparpotenzial des Gesetzentwurfs im Bereich Orphan Drugs nicht im Verhältnis zu dem Risiko einer schlechteren Verfügbarkeit innovativer Arzneimittel für Seltene Erkrankungen. Insbesondere auf die Senkung der Umsatzschwelle sowie auf eine weitere Regulierung der Preisverhandlungen sollte verzichtet werden!
Ausblick
Bei der Entwicklung von Orphan Drugs gibt es ein Spannungsfeld zwischen dem enormen Bedarf nach Therapien für die noch nicht (gut) behandelbaren Erkrankungen und dem damit zusammenhängenden Wunsch, den Zugang zum neuen Medikament so schnell wie möglich auch außerhalb von Studien zu gewährleisten. Auf der einen Seite die Notwendigkeit, gute Daten zur Qualität, Sicherheit, Wirksamkeit und dem Nutzen eines Produkts zu haben, um richtige Therapieentscheidungen zu treffen und einen angemessenen Preis verhandeln zu können, auf der anderen Seite. Die Datenlage, aufgrund derer die EMA entscheidet, ob ein „significant benefit" vorliegt, die eine Marktzulassung als Orphan Drug rechtfertigt, wird von Expertinnen und Experten des Gemeinsamen Bundesausschuss und IQWiG in vielen Fällen als nicht ausreichend betrachtet, um Zusatznutzen zu quantifizieren bzw. als gering, erheblich oder beträchtlich zu bewerten.
Unabhängig von der Frage, ob die Umsatzschwelle durch das GKV Finanzstabilisierungsgesetz gesenkt wird oder nicht, sollten die relevanten Akteure sich dringend darüber austauschen, wie Studien aufgesetzt werden sollten, damit diese indikationsspezifisch passende und aussagekräftige Daten vorlegen, um den Zugang für die Betroffenen sicherzustellen und zugleich einen angemessenen Preis zu verhandeln. Dabei sollten mit Blick auf die ATMPs und die Gentherapien auch über neue Preismodelle mit allen Akteuren beraten werden. Es ist unbestritten, dass das Gesundheitswesen auf die Therapien, die aktuell in der Pipeline sind, nicht gut vorbereitet ist. Wir halten es für wünschenswert, mehr Transparenz bei der Preisgestaltung von Arzneimitteln herzustellen. Dies würde einen wesentlichen Beitrag zu fairen Preisen und niedrigeren Kosten für das Gesundheitssystem leisten. ACHSE bringt sich in diesen Austausch gerne konstruktiv ein.
26. Juli 2022
ACHSE e.V.
(1) Kommentar zur demokratischen Beteiligung: Gemäß § 47 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) ist der Entwurf einer Gesetzesvorlage den Zentral- und Gesamtverbänden sowie den Fachkreisen, die auf Bundesebene bestehen, möglichst frühzeitig zuzuleiten, wenn ihre Belange berührt sind. Aus den bisherigen Stellungnahmen einiger Verbände geht hervor, dass sie an einem Freitag um Stellungnahme am nächsten Dienstag 12:00 Uhr gebeten wurden. ACHSE war diesmal leider noch nicht mal auf dem Verteiler des BMGs.
Der Austausch mit der Zivilgesellschaft dient nicht nur dazu, dass die betroffenen Gruppierungen ihre Interessen artikulieren können. Es ist auch essentiell, um Fehler in Gesetzen und von allen Beteiligten ungewollten Konsequenzen vorzubeugen. In der Urlaubszeit, während einer Sommerwelle der Pandemie, sind Verbände, insbesondere Patientenorganisationen, nicht stets in der Lage innerhalb von wenigen Tagen ihre Mitgliedsorganisationen um Einschätzung zu bitten und umfassend zu kommentieren. Hierauf weisen auch große Verbände, wie der SoVD oder der BPI, hin. Durch das Vorgehen verzichtet das Ministerium auf ein Teil der Kompetenz der Verbände und zeigt keine besondere Wertschätzung für ihre wichtige Arbeit.
Fußnoten:
(a) Siehe mehr hierzu im Positionspapier der ACHSE vom Juni 2021.
(b) Im Referentenentwurf scheint es drei verschiedene Einschätzungen zu den möglichen Ersparnissen zu geben (siehe S. 23, 24. und 28.). Es ist von 500.000, 100 bis 200 Million und von 1 bis 2 Millionen die Rede.
Mirjam Mann, LL.M.
Geschäftsführerin
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