Damit Menschen, die mit Seltenen Erkrankungen leben, eine optimale Versorgung erhalten, auf Fortschritte in der Forschung hoffen können und gerechte Teilhabe in allen Lebensbereichen möglich wird, ist jedoch noch viel zu tun. Unser Positionspapier „4 Millionen Gründe für eine bessere Gesundheitspolitik!“ beschreibt dringende Handlungsfelder, die eine Verbesserung in verschiedenen Bereichen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeitswelt erfordern.
2.1 Patientenpfade definieren und veröffentlichen: Es sollen konkrete Versorgungspfade im ambulanten und stationären Sektor für Seltene Erkrankungen erstellt und veröffentlicht werden, um eine strukturierte und optimale Versorgung zu gewährleiten.
2.2 MyCaseManager „auf Rezept“: Menschen mit chronischen und Seltenen Erkrankungen benötigen Unterstützung, um sich im komplexen Gesundheits- und Sozialsystem zurechtzufinden. Wir fordern die Einführung eines „Case Managers auf Rezept“, der individuell Betroffene entlastet, indem er sie bei der Organisation von Heil- und Hilfsmitteln, Pflege, Reha und sozialer Unterstützung begleitet. Dieser Case Manager sollte unabhängig agieren, ausschließlich den Interessen der Patienten verpflichtet sein und bürokratische Hürden abbauen.
2.3 Bewusstsein schaffen: Die Bundesregierung soll mehr Mittel bereitstellen, um das Bewusstsein für Seltene Erkrankungen zu schärfen und über verfügbare Hilfsangebote aufzuklären.
2.4 Vernetzte Versorgung: Die deutschen Zentren für Seltene Erkrankungen sollen besser miteinander und mit den European Reference Networks (ERN) sowie auch mit der nicht-spezialisierten Versorgung, insbesondere in der Niederlassung, vernetzt werden, um eine nachhaltige Versorgung sicherzustellen.
2.5 Hilfsmittelversorgung bedarfs- und patientenorientiert weiterentwickeln: Menschen mit Seltenen Erkrankungen sind oft auf Hilfsmittel angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die derzeitige Versorgung ist jedoch häufig unflexibel und nicht ausreichend auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt. Um lange Wartezeiten zu vermeiden, soll eine Genehmigungsfiktion eingeführt werden, bei der ein Antrag als genehmigt gilt, wenn er nicht innerhalb einer festgelegten Frist bearbeitet wird. Zudem muss der Antragsprozess transparent und verständlich gestaltet werden, damit Betroffene ihre Rechte kennen und Missverständnisse vermieden werden. Ziel ist es, den Zugang zu dringend benötigten Hilfsmitteln schnell und unkompliziert zu ermöglichen.
2.6 Nutzung Digitalisierung und KI: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) sollen gezielt eingesetzt werden, um die Diagnostik und Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern und Prozesse zu beschleunigen. Neue Tools bringen den Patientinnen und Patienten eine neue Perspektive und eine andere Verantwortung im Umgang mit ihren eigenen Gesundheitsdaten. Um Patientinnen und Patienten hierbei zu stärken, muss eine umfassende Aufklärung über den Einsatz digitaler Technologien und KI erfolgen. Dies schafft Vertrauen und kann die Akzeptanz erhöhen.
2.7 Gendiagnostik: Um Seltene Erkrankungen präzise und schnell zu diagnostizieren, sind spezifische fachliche Kompetenz, interdisziplinäre Zusammenarbeit, state-of-the-Art-Diagnostik und höchste Qualitätsstandards erforderlich. Hierfür gibt es bereits spezialisierte Zentren. Die Integration der Ganzgenomsequenzierung in die Regelversorgung, die in einem Modellvorhaben in den nächsten Jahren erprobt wird, ist ein weiterer essenzieller Schritt, um genetische Ursachen effizienter zu identifizieren. Unabdingbar sind hierbei klare Regelungen für den Umgang mit genetischen Daten, um Datenschutz und Datensicherheit zu gewährleisten und Betroffene umfassend zu informieren und aufzuklären
2.8 Neugeborenenscreening: Um Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, muss der Katalog der getesteten Erkrankungen regelmäßig überprüft und auf Basis neuester medizinischer Erkenntnisse und Entwicklungen ergänzt werden. Auffällige Befunde aus dem Neugeborenenscreening müssen konsequent in einem einheitlichen und effektiven Tracking-System weiterverfolgt werden, um Versorgungslücken zu vermeiden. Zudem sollen innovative Screening-Methoden in Pilotprojekten getestet werden, um deren Nutzen für die Regelversorgung zu bewerten. Diese Maßnahmen gewährleisten, dass betroffene Kinder frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden, wodurch ihre Lebensqualität nachhaltig verbessert wird.
3.1 Stärkung Medizinischer Register: Medizinische Register müssen ausgebaut und besser vernetzt werden, um Daten zu Seltenen Erkrankungen systematisch zu erfassen und für Forschung und Versorgung nutzbar zu machen. Ziel ist es, die Wissensbasis zu erweitern, Versorgungslücken zu identifizieren und die Entwicklung neuer Therapien sowie eine bessere Versorgung der Betroffenen zu ermöglichen.
3.2 Kodierung Seltener Erkrankungen: Die einheitliche Nutzung von Orpha-Codes und der Alpha-ID-SE soll auch im ambulanten Bereich verpflichtend eingeführt werden.
3.3 Forschung vorantreiben: Die Förderung von Grundlagen- und Versorgungsforschung zu Seltenen Erkrankungen muss erhalten und weiter ausgebaut werden, um innovative Therapien und eine verbesserte Versorgung zu ermöglichen.
4.1 Flexible Pflegebudgets: Die Pflege von Menschen mit Seltenen Erkrankungen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, bedarf dringender Reformen: Die flexible Nutzung eines einheitlichen Entlastungsbetrags und ein gesetzlich verankertes Case Management sollen den Zugang zu benötigten Leistungen erleichtern. Familien brauchen mehr Entlastungsangebote, insbesondere in ländlichen Regionen sowie eine gestärkte Verhinderungspflege und unbürokratische Unterstützung in der palliativen Phase. Um bedarfsgerechte Pflegegrade zu sichern, muss die Fachkompetenz der Gutachter für Seltene Erkrankungen aufgebaut werden.
4.2 Schulgesundheitsfachkräfte: Kinder und Jugendliche mit chronischen und Seltenen Erkrankungen benötigen Schulgesundheitsfachkräfte, um ihre gesundheitliche Betreuung und Teilhabe an Bildung zu sichern. Modellprojekte zeigen, dass diese Fachkräfte nicht nur kosteneffektiv sind, sondern auch die Schulgemeinschaft stärken, Eltern entlasten und die Bildungschancen aller Schülerinnen und Schüler nachhaltig verbessern. Wir fordern die flächendeckende Einführung von Schulgesundheitsfachkräften an allen Schulen in Deutschland, um eine inklusive und gesundheitsfördernde Bildungsumgebung zu schaffen.
4.3 Stärkung der Selbsthilfe: Selbsthilfeorganisationen sind unverzichtbar, um Menschen mit Seltenen Erkrankungen und ihre Familien zu unterstützen sowie das Wissen und die Erfahrungen der Betroffen in Gesundheitswesen, Forschung und Gesellschaft einzubringen. Um diese Arbeit langfristig zu sichern, ist eine nachhaltige Finanzierung notwendig. Gleichzeitig müssen Selbsthilfeorganisationen systematisch in gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, um die Perspektiven der Betroffenen stärker zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollten die Beratungsangebote der Selbsthilfe weiter ausgebaut werden, um eine umfassende Unterstützung für Betroffene und ihre Angehörigen sicherzustellen.
Die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen muss finanziell nachhaltig gesichert werden, um eine qualitativ hochwertige und flächendeckende Versorgung zu gewährleisten.
5.1 Finanzierung der NAMSE-Zentrenstruktur: Die Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) benötigen eine stabile und transparente Finanzierung. Insbesondere die ambulante Versorgung, die bisher oft unzureichend finanziert ist, muss stärker unterstützt werden, um die langfristige Funktionsfähigkeit der Zentren sicherzustellen.
5.2 Ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV): Damit die ASV-Versorgung für einen relevanten Teil der Betroffenen einer Seltenen Erkrankung realisiert wird, muss die ASV-Versorgung grundlegend geändert werden. Dabei muss die Finanzierung verbessert und das Verfahren vereinheitlich und drastisch entbürokratisiert werden.
6.1 Entwicklung von Medikamenten vorantreiben: Die Entwicklung neuer Medikamente für Seltene Erkrankungen muss durch gezielte Anreize und Förderprogramme intensiviert werden. Es ist notwendig, die Forschung zu innovativen Therapien zu stärken, um die Versorgungslücken bei Seltenen Erkrankungen zu schließen.
6.2 Zugang zu Orphan Drugs sichern: Der schnelle und umfassende Zugang zu Orphan Drugs, also Medikamenten für Seltene Erkrankungen, muss weiterhin gewährleistet bleiben.
6.3 Ganzheitliche Arzneimittelversorgung: Die sektorenübergreifende Versorgung mit Arzneimitteln muss verbessert werden. Es muss überdacht werden, ob es wirklich sinnvoll ist, die Vergütung der Arzneimittel von chronisch Kranken unterschiedlichen Budgets zuzuordnen, je nach dem, ob die Betroffenen gerade stationär versorgt werden oder nicht.
* Hinweis: Die Numerierung hier folgt der Numerierung im ausführlichen Positionspapier der ACHSE, das beginnt mit der 1. Einleitung!
ACHSE im November 2024 für die Legislatur ab 2025
Mirjam Mann, LL.M.
Geschäftsführerin
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