Für die vielen Kinder und erwachsenen Menschen, die mit einer der geschätzten 8.000 Seltenen Erkrankungen leben, ist es besonders wichtig, dass mehr Medikamente entwickelt werden, welche Symptome lindern, vielleicht gar heilen und damit ihre Lebensqualität verbessern und/oder ihre Lebensdauer verlängern. Seit Inkrafttreten der europäischen Verordnung zu Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten in 2000 (4) wurden etwa 150 Medikamente als so genannte „Orphan Drug" zugelassen (5). Für tausende Erkrankungen gibt es immer noch keine adäquate medikamentöse Behandlung.
Die Kosten für die wenigen zugelassenen Arzneimittel werden außerdem nicht überall in Europa von den Krankenkassen erstattet und sind damit für große Patientengruppen faktisch nicht zugänglich. Dies ist ein wahres Drama für die betroffenen Menschen, die dadurch nicht selten verfrüht versterben, viele davon Kinder. Beim Vergleich der finanzstarken EU-Länder ist es jedoch keineswegs so, dass die selben Mitgliedsstaaten systematisch weniger erstatten. Was wo warum erstattet wird, erscheint den Betroffenen völlig erratisch. Das jetzige Verfahren ist den Eltern von kranken Kindern und erwachsenen Betroffenen nicht zu vermitteln.
Der europäische Dachverband EURORDIS, in dem die ACHSE als die deutsche „National Alliance" aktives Mitglied ist, setzt sich dafür ein, dass sich dies ändert. Siehe dazu das Positionspapier „Breaking the Access Deadlock to Leave No One Behind" (6). Die europäische Gemeinschaft der Menschen, die mit einer solchen Erkrankung leben, kämpft unter anderem dafür, dass die europäische Zulassungsbehörde, die European Medicines Agency (EMA), und die nationalen HTA-Behörden viel enger zusammenarbeiten. Zurzeit gehen enorme Ressourcen und Chancen dadurch verloren, dass alle Beteiligten nur in ihren Silos denken und arbeiten.
Auch durch das beharrliche Drängen der Betroffenen in Europa hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zum Health Technology Assessment zur Ergänzung der Richtlinie 2011/24/EU unterbreitet (kurz: „Vorschlag"). Dieser Vorschlag sieht vor, dass für eine bestimmte Anzahl von Produkten, die aufgrund von einigen Kriterien (7) ausgewählt werden, eine gemeinsame klinische Nutzenbewertung durchgeführt wird, die dann für alle HTA-Behörden bindend ist. Diese gemeinsame Bewertung wird eng mit dem Prozess der Zulassung verzahnt, so dass sich die Industrie schon bei Entwicklung des Studiendesigns auf die Anforderungen sowohl der Zulassungsbehörde EMA als auch der HTA-Behörden einstellen kann.
Der Vorschlag sieht vor, dass das neue EU-System schrittweise eingeführt wird. Die ersten gemeinsamen Nutzenbewertungen werden erst drei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung durchgeführt. Die Zahl der gemeinsamen klinischen Bewertungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten soll dann während eines Übergangszeitraums von weiteren drei Jahren allmählich erhöht werden, wobei den Kapazitäten und Prioritäten der Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird. Der Vorschlag geht von etwa 10 bis 15 gemeinsamen klinischen Bewertungen im ersten Jahr aus. Zum Ende des Übergangszeitraums könnte diese Zahl auf rund 65 angestiegen sein. Nach Ende des Übergangszeitraums, d.h. frühestens in 2025, sollen alle Arzneimittel und Medizinprodukte, die von dem Vorschlag abgedeckt werden, einer gemeinsamen klinischen Bewertung unterzogen werden.
Die nationalen Behörden sollen ihre Zuständigkeit nicht aufgeben, sondern die Bewertungen mit wechselnden Rapporteuren gemeinsam durchführen. Dieses Modell der Zusammenarbeit wird schon mehr als 20 Jahre erfolgreich durch die Zulassungsbehörden in der European Medicine Agency (EMA) praktiziert. Es hat die Bedeutung, den Einfluss und das Arbeitsaufkommen der deutschen Behörden BfArM (8) und PEI (9) nicht geschmälert.
1. Verbesserung der HTA-Qualität: Der Nutzen eines Produkts kann am besten beurteilt werden, wenn das gesamte europäische Wissen zusammenkommt und nach dem höchstmöglichen Standard gemeinsam beurteilt wird. Durch den Austausch zwischen den HTA-Behörden wächst das Know-how aller.
2. Reduzierung von doppelter Arbeit: Dass 28 Mitgliedsstaaten jeweils einen eigenen HTA-Report pro Produkt erstellen, ist kein effizienter Einsatz von Ressourcen. Insbesondere im Bereich Seltener Erkrankungen, wo die Ressourcen so beschränkt sind, ist eine effiziente Nutzung vorhandener Kapazitäten sehr wichtig.
3. Verlässlicher einheitlicher europäischer Rahmen fördert die Investitionsbereitschaft der Industrie: Die Entwicklung von Medikamenten für Seltene Erkrankungen ist oft mit vergleichsweise hohen Investitionskosten (pro Patient) und einem großen unternehmerischen Risiko verbunden. Bei einem einzigen einheitlichen Bewertungsverfahren, das mit dem jetzt schon einheitlichen Zulassungsverfahren abgestimmt wird, wird die Industrie mehr Gewissheit über die Anforderungen an die klinischen Studien haben. Außerdem werden Kosten gespart, die bei der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an zuständigen Behörden anfallen würden. Durch weniger Kosten und geringere Risiken steigt die Investitionsbereitschaft der Industrie.
4. Mehr Transparenz zur Nutzenbewertung: Die EU-Mitgliedstaaten können zurzeit die Evidenz auswählen, die am Besten zu den für die Kostenerstattung verfügbaren Mitteln passt. Eine klarere Trennung zwischen wissenschaftlicher Bewertung und Preisverhandlung machen die nationalen Debatten über die Erstattung transparenter und damit gerechter.
5. Mehr Gerechtigkeit und Solidarität: Die freiwillige Kooperation zwischen HTA-Behörden hat seine Grenzen. Derzeit profitieren lediglich die Einwohner von etwa fünf Mitgliedstaaten von den Ergebnissen der im EUnetHTA freiwillig gemeinsam durchgeführten HTA. Wenn die Bewertung der klinischen Daten auf EU-Ebene gemeinsam durchgeführt wird, profitieren auch die Einwohner weniger finanzstarker Mitgliedstaaten von der erarbeiteten Evidenz. Sie könnten mit den hochwertigen Ergebnissen in ihren Erstattungsverfahren argumentieren.
Im Hinblick hierauf fordert die ACHSE die Bundesregierung dazu auf, den Vorschlag der Kommission nicht als Regelwerk zu betrachten, dass es zu verhindern oder stark einzuschränken gilt, sondern als ein positives europäisches Projekt, mit großem Potenzial, das im Interesse der Patienten noch zu verbessern ist.
a. Patientenbeteiligung: Deutschland hat mit der Patientenbeteiligung gemäß §§ 140 f, g und h SGB V eine in Europa beispielhafte Patientenbeteiligung etabliert. Patientenvertreter von demokratisch legitimierten Patientenorganisationen bringen das Erfahrungswissen und die Bedürfnisse der Betroffenen in dem Beratungsprozess ein. Diese Patientenbeteiligung hat aus Sicht aller Beteiligten zu einer Qualitätsverbesserung geführt, die nicht verloren gehen darf. In einem einheitlichen europäischen Verfahren sollte eine Patientenbeteiligung in vergleichbarer Form etabliert werden (d.h. mit Erstattung von Reisekosten und Aufwand, Bestimmung der konkreten Patientenvertreter durch die Patientenorganisationen und nicht durch die Behörde, Geschäftsstelle zur Unterstützung der Arbeit etc.)
b. Patientenbezogener Nutzen: Der EU-Vorschlag geht nicht klar von einem patientenbezogenen Nutzen aus. Die wissenschaftliche Diskussion sollte an patientenrelevanten Endpunkten anknüpfen, die auch im Austausch mit der Patientenvertretung zu bestimmen sind. Wenn das HTA-Verfahren an patientenrelevanten Endpunkten ausgerichtet wird, braucht man Patienten um diese Endpunkte zu identifizieren und zu gewichten, dazu braucht es unbedingt eine funktionierende Patientenbeteiligung (siehe oben).
c. Guter Zugang: Es ist sehr wichtig, dass der vorbildliche schnelle Zugang zu Medikamenten in Deutschland erhalten bleibt. Ein EU-HTA wird hoffentlich den Zugang zu Medikamenten für viele Betroffene in Europa verbessern. Diese Verbesserung für viele Betroffene sollte aber nicht zu einer Verschlechterung für Patienten in Deutschland führen. Dies ist bei der Einbindung des AMNOG-Verfahrens zu berücksichtigen.
d. Damit ein europäisches HTA-Verfahren einen hohen Mehrwert generiert, sollte eine verpflichtende Verwendung der gemeinsamen klinischen Bewertungen das Ziel sein. Statt zusätzliche Bewertungen durchzuführen, muss es doch möglich sein, dass die europäische Bewertung die spezifischen nationalen Besonderheiten berücksichtigt. Studien zu Seltenen Erkrankungen können in der Regel nur in einem internationalen Verbund aufgesetzt werden, um eine klinische Studie zu einer bestimmten Erkrankung mit ausreichender statistischer Relevanz durchzuführen. Nur wenn die nationalen Anforderungen schon auf europäischer Ebene bedacht werden, werden sie auch in den Anforderungen an die klinischen Studien abgebildet werden können. Und nur dann wird es auch Daten zu diesen nationalen Anforderungen geben. Es können und sollen nicht viele verschiedene Studien zu einem Medikament für eine Seltene Erkrankung durchgeführt werden.
Da die Finanzierung der EUnetHTA Joint Action 3 in 2020 ausläuft, bedarf es allerdings unbedingt bald einer nachhaltigen Regelung für die zukünftige Zusammenarbeit der europäischen HTA-Behörden. Die freiwillige Durchführung einer gemeinsamen Nutzenbewertung wie sie zurzeit von der Bundesregierung bevorzugt wird, könnte ein Zwischenschritt in die richtige Richtung sein.
e. Das Verfahren soll transparent sein. Damit die Qualität der Nutzenbewertungen im permanenten Dialog verbessert und die Berichte auf nationaler Ebene richtig gedeutet werden können, muss allen die vollständige Evidenz vorlegen, d.h. auch die negativen oder unveröffentlichten Studien, eingebrachte Stellungnahmen etc.
Die ACHSE ruft die Bundesregierung dazu auf, sich für ein gemeinsames HTA-Verfahren in Europa stark zu machen, das Doppelarbeit verhindert, die Qualität des HTAs verbessert und den Zugang für alle europäische Betroffenen fördert, hierzu ist insbesondere eine selbstorganisierte Patientenvertretung vergleichbar mit dem deutschen Modell zu etablieren.
(1) Die ACHSE setzt sich als Dachverband von mehr als 120 Selbsthilfeorganisationen für die Belange von den geschätzten 4 Millionen Menschen, die in Deutschland mit einer Seltenen Erkrankung leben, ein. Sie gibt den Seltenen eine Stimme!
(2) https://eur-lex.europa.eu/procedure/EN/2018_18
(3) Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, Siehe: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=LEGISSUM%3Asp0002
(4) https://eur-lex.europa.eu/LexUriSer/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:018:0001:0005:de:PDF
(5) Etwas mehr als 40 Produkte haben diesen Status entweder nach Ablauf der 10 Jahre Marktexklusivität oder durch zusätzliche Zulassung für häufigere Erkrankungen nicht mehr. https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/datenbanken-zu-arzneimitteln/orphan-drugs-list
(7) Siehe Art. 5.2. des Vorschlags
(8) Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: https://www.bfarm.de/DE/Home/home_node.html
(9) Paul-Ehrlich-Institut: https://www.pei.de/DE/home/de-node.html
(10) Siehe auch das Positionspapier von unserem Dachverband EURORDIS:https://www.eurordis.org/de/publication/eurordis-statement-proposal-regulation-hta-cooperation-europe
Mirjam Mann, LL.M.
Geschäftsführerin
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