Stellungnahme ACHSE zu EU Pharma Regulation

Erste Einschätzung zu den Vorschlägen der EU-Kommission für eine neue Arzneimittelrichtlinie und eine neue Verordnung*

Aktuell diskutiert die Europäische Union die größte Reform des Arzneimittelrechts seit mehr als 20 Jahren. ACHSE begrüßt sowohl das Anliegen, das Arzneimittelrecht zu modernisieren, als auch die dargelegten Ziele der Kommission. Insbesondere das Bestreben, der Zugang zu den bestehenden Arzneimitteln in ganz Europa deutlich zu erhöhen, sowie Forschung und Entwicklung von Orphan Drugs weiterhin zu fördern, begrüßen wir. Wir teilen die Auffassung der Kommission, dass sie ihre Ziele mit den vorgeschlagenen Regelungen allein nicht erreichen wird. Es braucht mehr als nur eine Änderung des Rechtsrahmens.

ACHSE betrachtet mit Sorge, dass im Arzneimittelbereich sowohl auf der europäischen als auch auf der nationalen Ebene in Deutschland so viel gleichzeitig geändert wird. Die Konkretisierung der Umsetzung der 2021 beschlossene EU-HTA-Verordnung2 ist in vollem Gange, deren Auswirkungen auf dem Prozess der Nutzenbewertungen in Deutschland sind noch unklar. Zu gleicher Zeit wurde mit den sogenannten „Leitplanken zur Preisverhandlung" im GKV Finanzstabilisierungsgesetz ein Paradigmenwechsel beim AMNOG vollzogen, der große Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln, mittelfristig auch für Orphan Drugs, haben könnte. Nach Verabschiedung der Richtlinie und der Verordnung kämen die gestaffelte Marktexklusivität, neue Definitionen wie z.B. „High Unmet Medical Need", die Neuorganisation der EMA, die Abschaffung des COMP und vieles mehr dazu. Wir sehen die Gefahr, dass die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen durch nicht optimale Regelungen und große Umsetzungsschwierigkeiten unter Druck gerät. Insbesondere den guten, schnellen Zugang für Betroffene in Deutschland gilt es zu erhalten.

Im Folgenden geben wir eine erste kurze Einschätzung zu einigen ausgewählten Aspekten der Reform, die uns besonders beschäftigen. Um ein gutes Regelwerk zu verabschieden, wird in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren, eine offene und zielorientierte Zusammenarbeit aller Akteure von Nöten sein, bei denen alle das übergeordnete Ziel – eine optimale Versorgung der Betroffenen - nicht aus den Augen verlieren. ACHSE steht als Gesprächs- und Kooperationspartner zur Verfügung und wird sich so gut es geht in den verschiedenen Austauschformaten einbringen.

Erste Kommentierung zu einigen Themen
(keine abschließende Bewertung der ACHSE):

1. Die Regelungen zur Patientenbeteiligung sind unzureichend. Positiv ist, dass im „Management Board" der EMA zwei Vertreter von Patientenorganisationen benannt werden sollen. Allerdings ist uns unklar, wer da wen vorschlagen kann. Im Art. 162 der Verordnung wird festgehalten, dass die Agentur außerdem ein Konsultationsverfahren etablieren soll, um Informationen auszutauschen und Kenntnisse über allgemeine wissenschaftliche oder technische Fragen im Zusammenhang mit den Aufgaben der Agentur zu bündeln. Die Agentur kann den Konsultationsprozess auf Patienten und andere ausweiten, soweit dies relevant ist. Das bedeutet, dass Patienten keine Gelegenheit bekommen, regelhaft auf ihre Erfahrungen und Sichtweisen aufmerksam zu machen und auf mögliche Probleme hinzuweisen. Auch die Regelungen zur Patientenbeteiligung in den „scientific committees" und „working parties" sind noch sehr unverbindlich und vage. Die Patienten können aus den Regelungen weder einen Anspruch auf transparente Informationen, noch auf konkrete Beteiligung, geschweige denn Fortbildung und hauptamtliche Unterstützung, erheben. Wir verstehen, dass der sehr hohe Standard der Patientenbeteiligung im G-BA, nicht sofort oder möglicherweise nie erreicht werden kann. Solange aber nicht ein Mindestmaß an verbindlichen Regelungen zur Patientenbeteiligung enthalten ist, fehlt der Reform eine entscheidende Komponente.

2. Wir begrüßen, dass die Definition einer Seltenen Erkrankung mit der Verabschiedung der neuen Regelungen nicht geändert wird. Das Recht der EU Kommission, den Kreis der Seltenen Erkrankungen nachträglich einzugrenzen, wenn die Anforderungen für eine „Orphan Designation" für diese Erkrankung aufgrund „besonderer Merkmale bestimmter Erkrankungen oder anderer wissenschaftlichen Gründe"3 nicht zutreffen, sehen wir als Gefahr. Das Ziel von Absatz 2 ist es, bestimmte Erkrankungen von den Fördermaßnahmen für Orphan Drugs auszuschließen. Uns ist nicht klar, mit welcher Zielrichtung dies angestrebt wird. Wir wehren uns gegen diese sehr unkonkret formulierte Eröffnungsklausel.

Aufgrund von Art. 175 muss die Kommission vor der Entscheidung gemäß Art. 63 Abs. 2 der Verordnung dazu die EMA anhören und von den Mitgliedstaaten vorge-schlagene Experten befragen. Eine Beteiligung der Patientenorganisationen ist möglich, aber nicht vorgeschrieben. Es ist nicht akzeptabel, dass der Kreis der Erkrankungen für die Forschung und Entwicklung unterstützt werden sollte, ohne Beteiligungsrechte der Betroffenen, insbesondere der Vertreter der krankheitsspezifischen Selbsthilfeorganisationen und ihrer Dachverbände, und ohne dass ein öffentlicher Meinungsaustausch stattgefunden hat, eingeschränkt werden kann.

3. ACHSE sieht keine Veranlassung, die aktuell geltende Marktexklusivität für die Dauer von 10 Jahren auf 9 zu verkürzen und nur im Falle von einer „high unmet medical need" wieder um ein Jahr zu verlängern. Welche Produkte „außergewöhnliche therapeutische Fortschritte"4 mit sich bringen und wie sich dies von einem regulären „significant benefit" gemäß Art. 68 Abs. 1 unter (b) unterscheidet, wird schwer zu objektivieren sein. Weil die Abgrenzung wirklich problematisch ist, werden enorme Ressourcen für die Etablierung eines allgemeinen Verständnisses dieses neuen Begriffes aufgewendet werden müssen: viele Veranstaltungen zwischen Krankenkassen, Industrie, Betroffenen und anderen Akteuren, die Entwicklung von „scientific guidelines" durch die EMA, Austausch der EMA mit EUneTHA und nationalen Behörden, Klageverfahren der Industrie etc. Wir haben kein Vertrauen darin, dass eine klare Abgrenzung gelingen wird.

Das Ziel, insbesondere mehr Forschung und Entwicklung für die Erkrankungen, für die es noch gar keine zufriedenstellende Therapie gibt, zu fördern, unterstützen wir nachdrücklich! ACHSE befürchtet allerdings, dass nur ein Jahr mehr Marktexklusivität für Erkrankungen mit „high unmet medical need" dafür nicht ausreicht und die geplante Regelung in dieser Form nur die Forschung und Entwicklung für alle Menschen mit Seltenen Erkrankungen beschränkt und nicht zu denen lenkt, die diese Aufmerksamkeit besonders bedürfen. Die 10 Jahre Marktexklusivität sollte als Anreiz für alle erhalten bleiben. Es werden anderweitige Maßnahmen zur Förderung der Forschung und Entwicklung für die besonders herausfordernden Erkrankungen gebraucht.

4. ACHSE begrüßt, dass ein weiteres Jahr Marktexklusivität für die Firmen zur Verfügung gestellt werden soll, die sicherstellen, dass ihr Produkt in allen „relevant Member States" zugänglich ist. Ob dies so gestaltet wird, dass dies für die Firmen auch tatsächlich ein Anreiz ist und die Anforderungen erfüllbar sind, können wir aus dem Entwurf leider nicht entnehmen. Wichtige Fragen scheinen ungeklärt. Was ist z.B. wenn bestimmte Mitgliedsstaaten das Produkt gar nicht verfügbar machen wollen? Ist jeder Preis von den Pharmafirmen zu akzeptieren? Wird andererseits sichergestellt, dass Firmen einer ökonomisch nicht interessanten Einführung mit falschen Begründungen entgehen können? Es ist höchst erstrebenswert, dass Firmen mit der Zulassung nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hätten, Arzneimittel in allen EU-Mitgliedstaaten zu vertreiben. Wie Firmen dazu animiert oder gar gezwungen werden könnten, muss allerdings noch besser ausgearbeitet werden.

5. Nach Einschätzung der EU Kommission wird der Zugang zu Arzneimitteln in Europa durch ihre Vorschläge verbessert, weil generische Produkte und Biosimilars schneller auf dem Markt kämen als bislang. Selbst wenn dies gelänge, greift dieser Ansatz bei Seltenen Erkrankungen bedauerlicherweise nicht, da es bereits zu wenige Original-Präparate gibt. Das oberste Ziel sollte sein, dass neue Behandlungsmöglichkeiten entwickelt werden, die auch für alle zeitnah verfügbar sind. Wollen und müssen wir wirklich in Kauf nehmen, dass die Betroffenen außerhalb Deutschlands und einigen anderen finanzstarken Mitgliedstaaten (mindestens) bis zur Verfügbarkeit von Generika und Biosimilars schlimmere Krankheitsverläufe und/oder eine Verkürzung der Lebensdauer erfahren müssen, wenn sie es denn überhaupt erhalten?

Zwischenfazit
Unter anderem dank der Bemühungen unseres Dachverbandes EURORDIS – Rare Diseases Germany, finden sich einige besorgniserregende Überlegungen - wie etwa das komplette Einstellen der Orphan Drugs Förderung- in dem Entwurf der EU Kommission nicht wieder. Insoweit gibt es eine gewisse Erleichterung, unterschiedliche mögliche Katastrophen abgewendet zu haben. Dennoch steckt genügend Zündstoff in den verschiedenen Änderungen des Arzneimittelrechts.

Außerdem gilt das „Strucksche Gesetz" auch auf der EU-Ebene. Jetzt fängt ein langwieriger Überarbeitungsprozess an, in dem Kompromisse zwischen EU Kommission, EU Parlament und den Gesundheitsministern der Mitgliedstaaten gesucht werden. Hierbei können jederzeit neue ungünstige Bestimmungen formuliert werden. Zurzeit lässt uns das Gefühl nicht los, dass manche in Wahrheit das Ziel verfolgen, ein größeres, innovatives Angebot von Arzneimitteln gar nicht erst entstehen zu lassen, anstatt sich zu bemühen die Gesundheitssysteme dadurch zu entlasten und zu schützen, indem man sich gemeinsam für Transparenz und eine starke Verhandlungsposition der „Payer" einsetzt.

Damit sich nach Verabschiedung der finalen Regelungen die Versorgung der Betroffenen in Deutschland nicht verschlechtert und wir den lobenswerten Zielen der Kommission tatsächlich näher kommen, brauchen wir die Aufmerksamkeit und Unterstützung aller Freunde der Seltenen. Wir bitten das BMG hiermit eindringlich, sich als eines der tonangebenden Ministerien in Europa in allen Gremien und Verhandlungen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen stark zu machen.

Berlin, 7. Juni 2023
ACHSE e.V.

*Erste Einschätzung zu den Vorschlägen der EU-Kommission für eine neue Arzneimittelrichtlinie und eine neue Verordnung: „Proposal for a directive of the european parliament and the council on the Union code relating to medicinal products for human use, and repealing Directive 2001/83/EC and Directive 2009/35/EC, hier im Folgenden „Entwurf Arzneimittel-Richtlinie" und der Proposal for a Regulation of the European Parliament and oft the Council laying down Union procedures for the authorisation and supervision of medicinal products for human use and establishing rules governing the European Medicines Agency, amending Regulation (EC) No 1394/2007 and Regulation (EU) No 536/2014 and repealing Regulation (EC) No 726/2004, Regulation (EC) No 141/2000 and Regulation (EC) No 1901/2006", hier im Folgenden „Entwurf Arzneimittel-Verordnung" zusammen auch "EU Arzneimittelrecht"


2Verordnung (EU) 2021/2282 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2021 über die Bewertung von Gesundheitstechnologien und zur Änderung dr Richtlinie 2011/24/EU

3Art. 63. Abs. 2. "specific characteristics of certain conditions or any other scientific reasons"
4Art. 70 Abs. 1 unter (a): „exceptional therapeutic advancement".

 

Kontakt

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