Wie erkläre ich anderen mein Leben, meinen Alltag mit einer Seltenen Erkrankung?

Kennt ihr es nicht auch, ihr versucht eure Seltene Erkrankung zu beschreiben und stellt frustriert fest, dass die Zuhörenden zwar verständnisvoll nicken, es jedoch sehr schwer für sie ist, sich in den Alltag mit einer chronischen (seltenen) Erkrankung hineinzuversetzen? Als Betroffene mit der angeborenen Stoffwechselerkrankung Alkaptonurie, in der sich der Knorpel in der Wirbelsäule und den Großgelenken schwarz verfärbt, was zu Versteifung und Schmerzen führt, bekomme ich öfters zu hören „Rückenschmerzen hat doch jeder mal".

Je weiter die Alkaptonurie aber fortschreitet, desto mehr bemerke ich, wie tief sie in meinen Alltag eingreift und mich teilweise auch verändert. Ursprünglich bin ich ein freiheitsliebender und kreativer Mensch, voller

 

Tatendrang und gerne bis bzw. über die Grenzen gehend, der es leider auch schwerfällt nein zu sagen. Jetzt fällt mir auf, dass meistens aus „ja klar doch" ein „ja aber" wird. Ich muss mir überlegen, ob ich bestimmte Vorhaben kräftemäßig schaffe oder nicht, ob genügend Regenerationszeit vorhanden ist und, ob andere wichtige Aufgaben nicht darunter leiden. Das heißt, ich muss mit meiner Erkrankung lernen immer zu planen und kann weniger spontan sein.

Die Löffeltheorie

Um diese Lebensrealität von Menschen mit chronischen Erkrankungen einem nicht erkrankten Menschen anschaulich zu erklären, hat die US-Amerikanerin und Bloggerin Christine Miserandino (Lupus) die Löffeltheorie (Spoon-Theory) entwickelt.

Angefangen hat alles, als ihre beste Freundin sie während eines Treffens im Café direkt fragte: „Wie ist es mit Lupus zu leben und krank zu sein?"

Zunächst perplex, griff Christine M. schließlich nach allen Löffeln, die sie auf ihrem Tisch und auf einigen Nachbartischen in diesem Café finden konnte. Mit 12 Löffeln in der Hand erklärte sie ihrer Freundin, dass jeder dieser Löffel eine Energieeinheit darstellte und ihr am Tag insgesamt nur 12 dieser Energieeinheiten zur Verfügung stünden. Mit dieser Symbolik wollte sie die Unterschiede im Alltag von Menschen mit und Menschen ohne chronischen Erkrankungen verdeutlichen, nämlich bei allen noch so kleinen alltäglichen Aufgaben Entscheidungen treffen zu müssen. Was für andere im Alltag selbstverständlich ist oder nebenherläuft, muss bei Menschen mit einer Erkrankung durchdacht sein. Und um diesen Punkt verständlich zu machen, benutzte sie die Löffel.

Mit einem Strauß von 12 Löffeln in der Hand sollte nun ihre Freundin alle Aktivitäten eines Tages aufzählen, dabei wurde jedes Mal ein Löffel weggenommen. So wollte sie erreichen, dass ihre Freundin den Verlust des «Lebens, wie sie es kannte» selbst nachfühlen konnte. Gleichzeitig sollte sie erfahren, wie tief eine chronische Krankheit in den Alltag eingreift und plötzlich die Kontrolle übernimmt.

Jede Aufgabe, wie aufstehen, sich waschen und anziehen, muss in kleinere Schritte zerlegt werden und in diesem Prozess müssen viele Details bedacht werden.

Wenn zum Beispiel die Hände durch Entzündung geschwollen sind, können Kleidungsstücke mit Knöpfen nicht getragen werden: "Du ziehst dir nicht einfach etwas an, du hast Lupus und musst das gut durchdenken".

Die Freundin begann zu begreifen, dass sie theoretisch noch nicht einmal aus dem Haus zur Arbeit war und nur noch 6 Löffel übrig hatte. Christine erklärte ihr, wie wichtig es nun ist den restlichen Tag bedacht zu planen, denn wenn die Löffel weg sind, sind sie weg. Am Ende des Tages muss sie sich zwischen Haushalt oder Freizeit entscheiden. Für beides fehlt die Energie. Manchmal kann man sich von dem morgigen Vorrat einen «Löffel leihen», aber dann wird der nächste Tag umso schwieriger, weil man mit weniger Löffeln auskommen muss.

Mittlerweile standen ihrer Freundin Tränen in den Augen: "Wie schaffst du das nur? Machst du das wirklich jeden Tag durch?" Christine erzählte ihr, dass manche Tage leichter sind, an manchen geht alles etwas schwerer und an einigen Tagen habe sie mehr Löffel als an anderen. Aber sie kann diesen Umstand nie ungeschehen machen und sie kann den Lupus nie vergessen.

Es ist diese Lebensweise, die einen Menschen ohne von einem Menschen mit chronischer Erkrankung unterscheidet. Es ist diese wunderbare Freiheit nicht nachzudenken, sondern einfach zu tun.

Zum Abschied schenkte Christine ihrer Freundin einen Löffel als Symbol für Ihr Verständnis. Ein Verständnis für Menschen mit chronischen Erkrankungen, denen man ihre Last oft nicht ansieht, die ihr Leben jedoch durchplanen müssen, um durchzuhalten. Für die abends etwas zu unternehmen oft purer Luxus ist.

Besseres Verständnis mit klarer Bildsprache

Ich benutze die Löffel-Theorie von Christine oft, um meinen Alltag mit chronischer Erkrankung  zu vermitteln und fühle mich sofort ein bisschen besser verstanden.

Ich bin zwar ein „ja aber" Mensch geworden, jedoch habe ich dadurch Fähigkeiten als Strategin entwickelt, welche mir bei Projektplanungen als Wissenschaftlerin und in meiner Vereinsarbeit für die DSAKU e.V. schon sehr viel geholfen haben.

 

Die Alkaptonurie ist gekennzeichnet durch die Akkumulation von Homogentisinsäure (HGA) und ihrem Oxidationsprodukt Benzochinon-Essigsäure (BQA). Folgen sind die Dunkelfärbung des Urins an der Luft, grau-blaue Färbung der Skleren und der Ohrmuscheln (Ochronose) und eine invalidisierende Erkrankung der axialen und peripheren Gelenke (ochronotische Arthropathie).

Viele Betroffene sind symptomlos und bemerken bis in das Erwachsenenalter
hinein ihre Krankheit nicht.

Mehr Informationen, Ansprechpartner und Hilfe finden Sie hier:

www.dsaku.de

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blaue, pinke, grüne und gelbe Umrisse von Beinen und Füßen, die in die Luft springen.