Homeschooling: Mehr Verständnis seit Corona

Justus ist 16 Jahre alt. Fieberschübe, die wie aus dem Nichts auftauchen, begleiten ihn schon sein ganzes Leben. Ausgelöst werden sie durch psychischen oder physischen Stress, hormonelle Veränderungen und kleinste Infekte. Eine sichere medizinische Erklärung gibt es bis heute dafür noch nicht - Diagnose unklar.

Aufgrund der Erkrankung fällt Justus oft mehrere Tage die Woche in der Schule aus und muss den Lernstoff zu Hause nachholen. Dabei ist er auch auf die Unterstützung und das Verständnis der Lehrkräfte angewiesen. Seit Corona ist Homeschooling an vielen Schulen zur Normalität geworden. Hat das ein Umdenken bewegt?

 

Wir haben Justus Mutter gefragt, wie sich für sie und ihren Sohn der Schulalltag seit Corona verändert hat.

Wie sah Ihr Schulalltag vor COVID-19 aus?

Ich wecke Justus unter der Woche jeden morgen schon um 05:30 Uhr. In einem kurzen „Checkup" gucken wir, wie er sich fühlt. Geht es ihm gut, kann er noch eine halbe Stunde im Bett bleiben und später mit dem Bus in die Schule fahren. Geht es ihm nicht so gut, braucht er länger und wird von mir, wenn er fit genug ist, später mit dem Auto in die Schule gebracht. Justus hat, durch seine Eigeninitiative und die Bereitschaft auch an Wochenenden oder in den Ferien Stoff nachzuholen, einen großen Vertrauensvorschuss bei einigen Lehrern, sodass ein „offener Anfang" vereinbart wurde. Er darf also später zum Unterricht dazukommen, wenn es ihm gut geht.

Auf das Verständnis der Lehrer angewiesen

Trotzdem kommt es zu vielen Fehltagen, die sich je nach Lehrer auch im Zeugnis sichtbar widerspiegeln. Handelt es sich um einen verständnisvollen Lehrer, darf Justus Klausuren nachschreiben. In anderen Fällen bekommt er ein NF für „nicht feststellbar" als Note, mit dem Vermerk, dass er unverschuldet fehlte oder Nachweise nicht erbringen konnte. Da in unserer Nachbarschaft keine Mitschüler von Justus leben, kann ihm keiner mittags kurz die Hausaufgaben vorbeibringen. Zwischenzeitlich wurde auf das Lehrerpult eine Ablage gestellt, in der Lehrer Unterrichtsmaterial für Justus sammeln können. Leider funktioniert das eher schlecht als recht.

Soviel Präsenz wie möglich

Es wird viel Eigeninitiative und ein langer Atem von uns gefordert: Material einholen, bei Fragen die Lehrer kontaktieren oder über YouTube nach guten Erklärungen suchen. Zum Glück lernt Justus sehr schnell und ist gerade in Fächern wie Mathe sehr gut. Den Stoff allein nachzuholen ist dennoch eine Mammutaufgabe und nur die wichtigen Grundlagen können berücksichtigt werden. Gedichte, Erörterungen oder Projektarbeiten fallen raus – auch mit Sprachen ist es ohne Praxis schwer. Allgemein gibt es jeden Sommer neue Ab- und Rücksprachen mit der Schule. Kontaktversuche zum Schulamt blieben lange unbeantwortet, bis vor kurzem eine neue Referentin dort angefangen hat, mit der wir nun im Austausch sind. Das Einrichten eines Förderunterrichts benötigte viel Zeit und Kraft. Eine Zeitlang hat sich eine Förderlehrerin bereit erklärt Justus freitagnachmittags zu unterstützen – eine langfristige und gute Lösung gibt es aber nicht. Generell gilt: so häufig am Unterricht teilnehmen, wie möglich!

Was sind die neuen Herausforderungen, Probleme und Ängste momentan in Zeiten von COVID-19?

An Ostern hatte Justus einen heftigen Schub. Mit so hohem Fieber fand sich aber kein Arzt, der ihn behandeln wollte und sein Hausarzt war im Urlaub. In der Schule wurde Justus außerdem als Risikopatient eingestuft – von der behandelnden Onkologin hingegen nicht. Wir selbst waren im Sommer, als es kaum bis gar keine Fälle in unserer Gegend gab, recht entspannt. Justus ging es nach den Sommerferien recht gut und er hatte „nur" ein bis zwei Fehltage pro Woche – hier profitiert er auf jeden Fall von den verstärkten Hygienemaßnahmen. Dennoch müssen wir, wie auch schon vorher, jedes hohe Fieber beim Arzt abklären lassen. Letztendlich weiß man nie, ob es diesmal nicht doch von Bakterien oder Viren ausgelöst wurde – oder eben ein COVID-19-Symptom ist.

Was hat sich seit COVID-19 am meisten verändert im Schulalltag? Wie gehen Sie und Ihr Kind damit um?

Seit den Herbstferien ist für uns das Schuljahr, was die Präsenzzeiten angeht, abgehakt. Bis dahin war Justus oft in der Schule anwesend – nach den Herbstferien war dies jedoch aufgrund der hohen Fallzahlen und den neuen Regelungen nicht mehr möglich. In den Herbstferien wurde eine Lernplattform „Lanis" eingeführt. Diese läuft, nach einem etwas holprigen Start, nun recht gut. Momentan sind quarantänebedingt nur fünf Schüler im Präsenzunterricht, während die anderen mit Hilfe der Lernplattform lernen. Dies führt dazu, dass Materialien verlässlicher zur Verfügung gestellt werden. Für mich bedeutet dies eine Erleichterung und mehr Freiheit. Justus selbst vermisst es aber in die Schule gehen zu können und seine Freunde zu sehen.

„Wenn er zuhause ist, kann er doch auch was tun?!"

Ein großes Problem von Homeschooling ist, dass es keine richtigen Krankheitszeiten gibt. Vielen ist nicht bewusst, dass Justus während eines Fieberschubes nicht in der Lage ist zu lernen – oder überhaupt seinem normalen Leben nachzugehen. Aber auch diese Lebenszeit will und muss Raum zum Nachholen bekommen. Während seine Mitschüler jetzt in der Prüfungszeit weniger Unterricht und Hausaufgaben haben, ist Justus noch damit beschäftigt, den verpassten Stoff nachzuholen. 

Wie gehen die Schule, Lehrer und Mitschüler/Freunde mit der Situation um? Erfahren Sie mehr Verständnis? Gibt es praktikable Lösungen?

Ja, auf jeden Fall. Gerade auf technischer Seite ging es jetzt, als quarantänebedingt fast alle Schulkinder von zuhause lernen mussten, voran. Mit der Lernplattform „Lanis" ist ein Schritt in die richtige Richtung getan. Doch es muss noch vieles optimiert werden und selbst hier gibt es Lehrer, die sich dem komplett verweigern und keine Materialien zur Verfügung stellen.

„Das Verständnis in Schule und Gesellschaft wächst"

Vor allem Lehrer haben verstanden, dass sie zuhause nicht einfach zu ersetzen sind. Generell hängt immer alles davon ab, wie offen Lehrer sind und wie der Schüler auf sie zugeht. Zum Glück ist Justus sehr selbstbewusst, ergreift die Initiative und setzt sich für seine Interessen ein. Würde er sich zurückziehen, würde er vergessen werden. Ich selbst bin als Elternbeirat aktiv an der Schule. Es ist wichtig, immer wieder Lösungen zu fordern, mitzugestalten und in Gespräche zu gehen. Je mehr wir aufklären, desto mehr Verständnis bekommen wir zurück. Es ist ein großer Vorteil, dass die Schule, die Lehrer und Justus sich und die Problematiken inzwischen kennen.

Haben Sie Wünsche oder Vorstellungen, wie Lösungsansätze für Schüler mit einer Seltenen Erkrankung in der Zukunft aussehen sollten?

Es ist gut, dass jetzt in der Coronazeit Möglichkeiten des Homeschoolings geschaffen und ausgebaut werden. Dennoch muss auch an die Zeit danach gedacht werden, wenn alle wieder zur Schule können und Schulkinder wie Justus wieder die Ausnahme sind. Ich würde mir einen Koordinator im Schulamt als Schlüsselperson zwischen Betroffenen, Ärzten und der Schule wünschen. Auch in der Schule müsste es einen festen Ansprechpartner für Schüler geben, die aufgrund einer Erkrankung – auch ohne Diagnose – nicht immer anwesend sein können. Die Kinder sollen so oft wie möglich in die Schule können, damit sie ihre Freunde sehen können und zuhause nicht vereinsamen – dafür müssen die Schulen aber flexibler sein. Auch muss es bessere digitale Lösungen für die Homeschooling-Phasen geben.

Was bisher komplett fehlt sind Wiedereingliederungsmaßnahmen, wenn Schüler lange Zeit aufgrund von Krankheit gefehlt haben - ähnlich wie die Wiedereingliederung im Beruf nach langer Krankheit. Einmal kam Justus von einem langen Krankenhausaufenthalt zurück in die Schule. Er sollte gleich wieder ganztags am Unterricht teilnehmen - mitsamt Bewertung. Auch eine Matheklausur stand in der Woche noch an. Ein Nachteilsausgleich ist heute möglich, nachdem klar wurde, dass es ohne eine individuelle Lösung über Klassenkonferenzen nicht geht.

Justus wünscht sich außerdem eine Übertragung der Schulstunden über Video, um dem Unterricht mitsamt Tafelbildern von zuhause aus folgen zu können. Ein Thema das demnächst gemeinsam angegangen wird.

Abonnieren Sie "Seltene Einblicke" und wir benachrichtigen Sie, sobald es neue Geschichten, Tipps und Informationen gibt.