Meine Frau hatte eine neurologische Erkrankung. Relativ früh wurde ich in ihre medizinische Betreuung eingebunden – motorische sowie weitere Einschränkungen machten diese Unterstützung notwendig.
Um meiner Frau im Umgang mit ihren Ängsten helfen zu können, aber auch um in den Austausch mit weiteren Betroffenen zu kommen, gründete ich eine Selbsthilfegruppe für Patienten und Angehörige von Menschen, die Morbus Parkinson als erste Diagnose erhalten hatten.
Im Laufe der Jahre habe ich mich viel mit dem Thema befasst sowie Studien, Fachartikel und Dissertationen (Doktorarbeiten) gelesen. Auch habe ich Vorträge organisiert und war viel im Austausch mit Ärzten und Therapeuten.
Die Odyssee meiner Frau war lang und wurde begleitet von vielen Fehldiagnosen. Die erste Diagnose hieß „idiopatisches Parkinson". Während eines Klinikaufenthaltes wurde diese Diagnose bestätigt – lediglich ein vom Neurologen hinzugezogener Radiologe widersprach und schloss Parkinson aus.
Nach dem Krankenhausaufenthalt wechselte meine Frau zu einem auf Bewegungsstörungen spezialisierten Neurologen. Ich begann mich, mit dem Einverständnis meiner Frau, mehr einzubinden und sie zu Arztbesuchen zu begleiten – vier Ohren hören mehr. Und generell ist es immer empfehlenswert, bei bereits schwierigen Diagnosewegen in Begleitung zum Arzt zu gehen.
Mit der Zeit kamen weitere Symptome hinzu. Eines davon wurde in der Literatur als sogenannte „Red Flag" für die Seltene Erkrankung progressive supranukleäre Blickparese (PSP) aufgeführt. Besagte Symptome wurden erst ignoriert, bei einem späteren Besuch wurden sie zwar vernommen aber ihnen wurde nicht nachgegangen.
Nach einem Sturz musste ich meine Frau erneut ins Krankenhaus bringen – bei der Gelegenheit konsultierten wir gleich den im Krankenhaus ansässigen Urologen. Der Bruch selbst war mehr ein Riss und konnte, konservativ, durch Abwarten behandelt werden. Während des Aufenthaltes kam es aber zu einer Blasenentzündung und meine Frau schien zu halluzinieren. Ersteres wurde behandelt, Zweites wurde nur belächelt. Meine Frau wurde mit neuen Rezepten in der Hand entlassen – doch schon die erste Nacht schlief sie sehr unruhig. Ich beschäftigte mich am folgenden Tag ausgiebig mit den verschriebenen Medikamenten und fand heraus, dass bei einem der Medikamente eine sehr starke Kontraindikation in Zusammenhang mit einem der Medikamente, die sie wegen der Parkinson Diagnose erhielt, genannt wurde. In Absprache mit dem Urologen wurde dieses abgesetzt – die festgestellten Symptome seien jedoch psychisch und durch das Lesen des Beipackzettels entstanden, meinte er.
Um die Diagnosesuche zu unterstützen, fing ich an eine Liste zu erstellen mit Symptomen und allem, was mir merkwürdig vorkam. Die Liste wurde lang. Ebenfalls hatte ich immer mehr über PSP gelesen und große Angst, dass meine Frau tatsächlich betroffen sein könnte. Aus meiner Sicht sprach einiges dafür – allerdings auch einiges dagegen. Die Symptome wurden jedoch nicht besser und so stand erneut ein Termin in der Neurologie an. Ich nahm alle Notizen und Listen mit – wir brauchten dringend eine Diagnose.
Leider lässt das System Ärzten oft nur wenige Minuten mit dem Patienten, sodass diese für solche Listen gar keine Zeit haben. Stattdessen wurde ich gefragt, ob ich möchte, dass meine Frau Antidepressiva erhalte – eine Frage, die mit viel Verantwortung einhergeht und die ich als Laie nicht beantworten konnte. Einige neurologische Erkrankungen gehen mit schleichenden psychischen Symptomen einher, die auch in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Diese kommen so langsam, dass die Betroffenen es selbst oft nicht merken, Angehörige jedoch oftmals schon. Sie können diese aufschreiben – Entscheidungen, die die Behandlung betreffen, muss dennoch der Arzt treffen. Meine Frau wurde schließlich mit der Diagnose „Verdacht auf PSP" wieder entlassen.
Wieder zuhause, veränderte sich leider nicht viel zum Guten. Meine Frau hatte weiter unruhige Nächte. Der Besuch in einem Schlaflabor wurde empfohlen und konnte direkt einen Monat später umgesetzt werden. Während ich in der Zwischenzeit schlafen konnte, wie ein Kind, kam es bei meiner Frau zu häufiger nächtlicher Unruhe. Vermutet wurde, dass die verordneten Medikamente der Auslöser waren.
Und wieder fanden wir uns in der Neurologie. Doch dieses Mal wurde gezielt auf die Verdachtserkrankung PSP untersucht. Auch eine nuklear medizinische Untersuchung fand statt. Wir machten sehr gute Erfahrungen mit den Ärztinnen und Ärzten vor Ort. Uns wurde nicht nur kompetent geholfen. Alle Beteiligten sprachen offen darüber, dass die Krankheit sehr kompliziert sei und man sich teilweise nicht sehr gut damit auskenne, sich jedoch informiere und alles im Bereich des Möglichen unternehme. Und schließlich hatten wir die Diagnose – PSP. Die progressive supranukleäre Blickparese (PSP) ist eine seltene, spät beginnende, progrediente neurodegenerative Erkrankung. Meistens kommt sie einher mit einer supranukleären Blickparese, Haltungsinstabilität, Rigor, leichten kognitiven Einschränkungen sowie in manchen Fällen mit einer leichten Demenz.
Der Medikamentenplan wurde an die neue Diagnose angepasst, das Antidepressiva gewechselt – ich hatte zu diesen Antidepressiva gerade einen Bericht in einer pharmazeutischen Zeitung gelesen und war wenig begeistert. Aufgrund einer der zahlreichen Symptome erschien mir das Medikament in diesem Falle fehl am Platz. Wir suchten weiter nach einem spezialisierten Neurologen – über alte Kontakte, über die Krankenkassen etc. Es dauerte lange, bis wir eine neue Praxis fanden. Doch auch hier kannte man sich nicht ausreichend mit der Erkrankung aus.
Durch Zufall ging es voran – im Rahmen meiner Parkinson Selbsthilfe hatte ich einen Vortrag organisiert. Eine renommierte Neurologin, die ich angefragt hatte, schickte uns eine ihrer Mitarbeiterinnen – eine tolle und kompetente Ärztin. Wir kamen außerhalb der Veranstaltung ins Gespräch und sprachen auch über meine Frau und ihre bisherige Odyssee. Die Ärztin empfahl ziemlich direkt ein anderes Antidepressivum. Über unsere bisherige Neurologin wurden wir ans Uni Klinikum überwiesen, dort wurde meine Frau erneut gründlich untersucht. Der Medikamentenwechsel war gesichert – innerhalb nur weniger Stunden wurde eine drastische Verbesserung sichtbar.
Kurz vor dem Besuch der Uni-Klinik wurde über eine Pflegebegutachtung der Besuch einer Rehaklinik empfohlen. Der Aufenthalt konnte direkt im Anschluss an den Klinik-Besuch stattfinden und wir fanden in der leitenden Stationsärztin eine tolle Unterstützung. Sie kannte sich mit der Erkrankung selbst nicht aus, beschäftigte sich aber intensiv mit dem Entlassungsbericht der Uniklinik und führte weitere Untersuchungen durch. Der Austausch war sehr offen und wir fühlten uns immer gut informiert – ich war so glücklich und durfte die Ärztin als Zeichen meiner Dankbarkeit am Tag der Entlassung sogar umarmen.
Durch einige Recherchearbeit und die Tatsache, dass es tatsächlich nur ein für die Erkrankung zuständiges Fachgebiet gab, konnte ich schnell die gewünschten Experten ausfindig machen und wurde von da an immer wieder positiv überrascht.
Mit meinem heutigen Wissen ist mir klar, wie oft es zu Fehldiagnosen oder sogar überhaupt keinen Diagnosen kommen kann und wie beschwerlich der Weg für die Betroffenen aber auch für Angehörige wie mich ist. Bei über 8.000 Seltenen Erkrankungen und noch mehr nicht seltenen Erkrankungen ist es verständlich, dass der Hausarzt nicht alle kennen kann. Die Überweisung an Spezialisten ist essenziell. Doch auch hier muss man Glück haben, gehört und ernst genommen zu werden.
Wichtig ist im Hinterkopf zu behalten, dass Ärzte und Therapeuten auch nur Menschen sind. Sie haben ein vom System vorgegebenes Zeitfenster und Richtlinien – gerade bei Seltenen Erkrankungen kommen sie da häufig an ihre Grenzen und oft nur durch zeitintensives Eigenengagement weiter. Dazu kommt, dass gerade im Bereich der Seltenen Erkrankungen nicht ausreichend Erfahrung vorhanden ist. Symptome können aus unterschiedlichen Gründen auftreten, was eine Diagnosestellung nicht erleichtert. Aus meiner Sicht sind hier der gegenseitige Respekt sowie offene Kommunikation unabdingbar. Die Betroffenen müssen ihre Beobachtungen, Ängste und Sorgen äußern können. Die Ärzte müssen sagen dürfen, dass sie sich in diesem Bereich zu wenig auskennen und an einen Spezialisten verweisen.
Doch auch in der Politik muss umgedacht werden – schließlich beschließt die Politik wichtige Gesetze. Häufig gilt ein Arzt gleich als Spezialist für alles. Das führt vor allem bei Pflegebegutachtungen mit dem Medizinischen Dienst (MD) immer wieder zu großen Problemen. Häufig sind sowohl die Gutachter als auch die Ärzte des MD fachfremd. Das führt oft zu Fehlbegutachtungen, die immer wieder in Widersprüchen enden.
Die Initiative „Waisen der Medizin" wurde 2018 gegründet und richtet sich an Menschen die von „seltenen Erkrankungen" betroffen sind oder noch keine Diagnose haben.
„Viele" und „Selten", ein Widerspruch in sich? Nein, denn tatsächlich leben in Deutschland ca. 4 Millionen Menschen, die von einer "Seltenen Erkrankung" betroffen sind. Noch nicht mit einbezogen sind an dieser Stelle all diejenigen, die zwar bereits schwer erkrankt, aber noch immer ohne Diagnose und damit auch ohne medizinische Hilfe sind.
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